Mit großer Freude habe ich ein älteres Buch über Naikan entdeckt und dabei einige Überschneidungen mit dem Enneagramm entdeckt.
Naikan ist eine weitgehend unbekannte Methode der Selbstbeobachtung aus Japan. In einem zen-ähnlichen Setting beschäftigt man sich einige Tage lang mit der Beobachtung der eigenen Erinnerungen. Dabei unterteilt man die Erinnerungen in einzelne Personen (Mutter, Vater…) und Zeiträume („im Alter von … bis“).
Für die einzelnen Zeiträume und Personen stellt man sich nacheinander immer wieder die folgenden drei Fragen:
„1. Was hat diese Person in dieser Zeit für mich getan?
2. Was habe ich in dieser Zeit für diese Person getan?
3. Welche Schwierigkeiten (oder welchen Kummer) habe ich dieser Person in dieser Zeit bereitet?“ (Bölter, S.14)
Die Dynamik dieser Vorgehensweise ist offensichtlich: Die vierte Frage, die viele Menschen sehr präsent haben, wird nicht gestellt. Das kann eine große Herausforderung sein. Bölter sagt: „Wir schauen anders auf die Welt, und wir sehen auch uns selbst von einer anderen Seite“ (S.14). Hier kann ich ihm aus tiefster Überzeugung zustimmen. Nach einer Woche Naikan vor vielen Jahren habe ich nie wieder so über meine Eltern gesprochen, wie ich es vor der Naikan-Woche tat.
Der Leiter der Naikan-Übung kommt etwa jede Stunde zum Übenden und stellt ihm die obigen drei Fragen. Die Antworten hört er sich in einer ganz und gar neutralen und empathischen Haltung an. Kommentiert wird nichts. Der Leiter bedankt sich beim Übenden und geht wieder. Das ist die ganze Übung, „vollzogen in meditativer Zurückgezogenheit und Stille, ohne Therapeuten und ohne spirituelle Meister“ (S.20).
Soweit eine sehr kurze Vorstellung der Naikan-Methode. In einem persönlichen Bericht schildert Bölter seine Erfahrung, wie er selbst seine Geschichte konstituiert: „Nicht die Fakten prägen unsere Persönlichkeit, sondern wir benutzen die Fakten, um uns für unsere Zwecke eine Geschichte zu konstruieren“ (S.23). Jedes „Geschehen, Ereignis oder Verhalten so oder so zu sehen, ist meine Entscheidung. Und nach dieser Entscheidung verhalte ich mich und vergrößere das Leiden. (…) Ich lerne, dass ich dafür verantwortlich bin, wie ich meine Geschichte sehe, (…) und vor allem, dass ich damit nicht das Opfer meiner Geschichte bin, sondern sie als Subjekt konstruiere.“ (S.25) Wie ein Blitz trafen mich identische Erinnerungen, die ich auch auf dem Enneagramm-Weg machen konnte.
„Schmerzlich und hilfreich zugleich ist auch die Einsicht in den Vorgang, wie das Ich zuerst eine Geschichte des eigenen Leids schreibt und dann weiteres Leid erzeugt im Versuch, das ursprüngliche Leid zu verringern“ (S.27). Dies könnte ebenso ein Kommentar zur Enneagramm-Übung sein. Ich habe mich an den Überschneidungen gefreut.
Wer ernsthaft daran interessiert ist, seine alten Verstrickungen aufzulösen, wird wahrscheinlich auch aus der Naikan-Übung einen großen Gewinn ziehen können.
(Bölter, D. (2004): Drei Fragen, die die Welt verändern. Die Naikan-Methode im Kontext von Spiritualität und Psychotherapie. Bielefeld: Kamphausen.)
(Peter Wicke)
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