Das Enneagramm der mündlichen Tradition

 

Im Folgenden, ursprünglich auf seiner Website erschienen Artikel, charakterisiert David Daniels, einer der Gründungsväter/mütter der mündlichen oder narrativen Tradition sehr präzise, aber auch radikal ihre Philosophie und Anwendung. Möge der Artikel wegweisend für künftige Generationen der mündlichen Tradition sein.

Der Link zur Website mit dem Originaltext:
https://drdaviddaniels.com/the-narrative-tradition/

Die Veröffentlichung auf unserer Homepage wurde von den Verantwortlichen der Website gestattet.

Die Narrative Tradition des Enneagramms

Das Selbst „von Innen nach Außen“ Typisieren

Von David Daniels, M.D., Übersetzung Jürgen Gündel 2023

 

Überblick:

Was wir heute die „Narrative Tradition“ nennen ist eine Methode des Lernens und Lehrens, die darauf beruht, dass jeder der neun Persönlichkeitstypen für sich selbst spricht. Sie ist eine Philosophie, wo wir individuell unsere eigene Selbst-Kenntnis und unseren persönlichen Entwicklungsweg hin zu einem integrierterem menschlichen Wesen beisteuern.  Die Narrative Tradition beruht auf Tiefen-Panels von Typvertretern, Interviews und Kleingruppenprozessen. Weiter unten schildere ich die Historie und den ungeheuren Reichtum dieser fundamentalen Methode. Zusätzlich mache ich die Wichtigkeit deutlich, das Selbst von innen nach außen zu typisieren. Unsere Typstruktur zu entdecken und dies öffentlich auszusprechen ist der erste Schritt in der Selbst-Entwicklung. Beim Enneagramm geht es um die innere Struktur der Wirklichkeit, nicht einfach darum, äußeres Verhalten und Eigenschaften zu identifizieren.

 

Eine kurze Geschichte der Narrativen Tradition

In den 1970iger begann Helen Palmer zusammen mit anderen in Berkeley, Kalifornien, Podiumsinterviews der neun Persönlichkeitstypen des Enneagramms durchzuführen. Diese Methode, für die der Begriff „die Narrative Tradition“ geprägt wurde, erwies sich schnell als kraftvolle und effektive Lehrmethode. Es ist eine Sache, Theorie und Konzepte zu lesen, die in einem Buch präsentiert werden. Eine ganz andere Sache ist es, einen Persönlichkeitstyp zu erleben, wie er für sich selbst spricht. Sie und ich (DD) haben das Enneagramm seit 1988 in unserem Enneagramm Professional Training Programm (EPTP) mit Hilfe der Methode der Narrativen Tradition gelehrt. In diesem Jahr haben wir das erste Enneagramm Trainings Programm etabliert. Unser Ziel war es, Standards für diese Arbeit zu setzen. In dieser Arbeitsweise enthüllen Panels von Sprechern der Typen ihre inneren Welten und Wirklichkeiten vor einem Publikum. Jede(r) einzelne Teilnehmende lehrt alle anderen in einer Weise, wie es keine didaktische Methode jemals könnte. Unsere Organisation, THE NARRATIVE ENNEAGRAM (TNE) ist nun in verschiedenen Ländern weltweit aktiv und ist Jahr für Jahr gewachsen.

 

Der Wert der Narrativen Tradition

Die Befragungsmethode der Narrativen Tradition, ob auf Podien, in Kleingruppenübungen oder im Einzelinterview erhellt die inneren Auseinandersetzungen, Dilemmas, Stärken, die grundlegende Struktur und die Entwicklungswege eines jeden Typs. Eingebettet in diesen Ansatz ist die Grasswurzelphilosophie der Selbst-Entdeckung und des Selbst-Ausdrucks, die für das letztliche Ziel der Selbst-Entwicklung so grundlegend sind. Die Typen lehren uns fortgesetzt etwas über sie selbst auf, immer tiefer werdenden Ebenen bewusster Wahrnehmung, und während wir (…als Lehrende..JG) explorieren, lernen wir mit ihnen. Die Podiumsmethode erkennt, dass der Typ auf der inneren Struktur der Wirklichkeit basiert, die implizit weitgehend nicht-kognitiv und außerhalb der bewussten Wahrnehmung stattfindet, bis wir dank der Entwicklung von Selbst-Beobachtung und der Fähigkeit der Selbst-Erforschung. „aufwachen“.  Zudem wertet diese Methode in keiner Weise weder das geschriebene Wort noch explizites kognitives Lernen ab. Beides sorgt für größere Klarheit, ermöglicht Diskussion und kann zudem leicht verbreitet werden. In dieser Weise ist das Enneagramm letztlich eine „innerer Job“, Deinen eigenen Aufmerksamkeitsstil und die grundlegende Motivation hinter den eigenen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen kennen zu lernen. In dem System geht es nicht primär um externes Verhalten, sondern eher darum, wie Verhalten in Beziehung steht zum Aufmerksamkeitsstil, zur Motivation und zur spirituellen Erfahrung. Aus unserer Sicht gibt es keinen besseren Weg zu erkunden, zu lernen und zu lehren als durch die interaktive Methode der Narrativen Tradition.

 

Was die narrative Tradition nicht ist

Akzeptanz und Verstehen einer Sache entsteht häufig aus der Anerkennung dessen, was sie nicht ist. In der Narrativen Tradition des Lehrens geht es nicht um Geschichte per se, gleichwohl hat jede Person eines jeden Typs ihre eigene Geschichte. Der Begriff bezieht sich auch nicht auf altherbrachte Wurzeln oder Überlieferungen. Darüber hinaus gibt es keinen spirituellen Führer und keine spezifische Abstammungslinie dieser Lehre außer ihrer Philosophie des gleichberechtigen (grass roots) Mitteilens, des Bezeugens und der Selbst-Erforschung. Tatsächlich demokratisiert diese Tradition, in der die Typen für sich selbst sprechen, das Lernen und erfordert praktisch die Übernahme von Verantwortung durch die Studenten und die Lehrer gleichermaßen. Schließlich beansprucht die Panel- Methode der Befragung in keiner Weise, ein geheimes Orakel zu sein, das besonderes Wissen erhält, welches den engagierten Studenten der psychologischen und spirituellen Gebiete nicht auch zugänglich wäre.

 

Warum geht “Enneagramm Typisierung” von Innen nach Außen?

Meiner Meinung nach verletzt der Vorgang, andere Menschen zu typisieren, ebenso wie die Versuche, berühmte Persönlichkeiten, Politiker, historische Figuren und Kulturen zu typisieren, die grundlegenden philosophischen Prämissen der Narrativen Tradition. Typisierung geht am besten als „inside Job“. Typisierung ist das Ergebnis von Erforschen, das zu Selbst-Entdeckung und dann zur Selbst-Entwicklung führt.

 

Warum? Weil der erste Schritt der Selbst-Entwicklung Selbst-Entdecken ist, nämlich die Fähigkeit den eigenen Typ durch inneres Erkunden zu erkennen. Wir lehren die Begleitung dieses Befragungsprozesses, um den Selbst-Entdeckungs-Prozess zu unterstützen. Das ist Kern und grundlegende Prämisse unserer Lehren. Selbst wenn ich das Gefühl hätte, jemand von außen her mit 90-prozentiger Genauigkeit typisieren zu können, würde ich es vorziehen, das nicht zu tun. Der Wert des „Typisierens“ liegt in der Selbst-Entdeckung unserer eigenen inneren Funktionsweise und der grundlegenden geistigen Angewohnheiten.

Warum? Weil wir lehren, dass wir alle das Potential haben, zu unserer Selbst-(er)kenntnis und Expertise beizutragen. Das ist das Herz der Narrativen Tradition. Die Typen werden am besten dargestellt/repräsentiert, wenn sie für sich selbst sprechen.

Warum? Weil das Enneagramm System uns zeigt, wie sehr unsere Persönlichkeit unsere Leben, unsere Ansichten, unsere Voreingenommenheiten und unsere Entwicklungswege bestimmt. Es zeigt uns, dass wir sorgsam und überlegt sein müssen, damit wir nicht willkürlich jemand anderem einen Typ überstülpen, noch bevor die Person eine Chance hatte, sich selbst zu begegnen.

Warum? Weil die Typen Archetypen sind, die wir respektieren und schätzen müssen. In der Narrativen Tradition geht es darum, den Typisierungsprozess als etwas wertzuschätzen, was von innen nach außen vorgenommen werden muss, nicht von außen nach innen.

Warum? Weil wir unbewusst unsere eigenen Typ- Voreingenommenheiten anwenden, was oft darin resultiert, dass wir bei anderen unseren eigenen Typ über-diagnostizieren. Erinnere Dich daran: wir sehen, was wir glauben, nicht anders herum. Es gibt tatsächlich eine große Fehlerrate beim Typisieren der anderen von außen.

Warum? Weil, wie Anna Murphy in „The Cult of Personality” zeigt, Persönlichkeitstypologien sich als nicht prädiktiv herausgestellt haben, weil sie auf äußeren Charakteristika beruhen.

So ist das Typisieren von berühmten Persönlichkeiten, Politikern, historischen Figuren und Kulturen einfach nur ein Salonspiel. Ja, es macht Spaß, fordert das Denken heraus und bringt Engagement. Ich dränge uns alle dazu, uns daran zu erinnern, wenn wir dabei sind, der Versuchung des „Typisierens von außen her“ zu erliegen. Das wahrzunehmen führt uns auch zu einer gesunden Demut.

 

Zusammengefasst:

Die Methode und Philosophie der Narrativen Tradition ist derart zentral für unsere Arbeit, dass der Name unserer Organisation, Enneagram Studies in the Narrative Tradition (ESNT) sie direkt widerspiegelt. Darüber hinaus sind wir jetzt eine offizielle 501c3 non-profit Corporation. Wir haben diesen Schritt gemacht, um unsere längerfristigen Ziele deutlich erkennbar zu machen. Wir schätzen und respektieren all diejenigen, die mit uns gelernt haben und danken jedem Einzelnen für seine/ihre vielfältigen Beiträge.

Wir wissen, dass, wenn wir unsere Weisheit und Wissen miteinander teilen, das Ganze viel grösser als die Summe seiner Teile werden wird. Und abschließend: diese Philosophie bringt uns alle auf den Weg integriertere, sich selbst bewusstere menschliche Wesen zu werden.

 

Hier verweisen gerne auf folgende Veröffentlichungen von David Daniels:

The Essential Enneagram:  https://www.amazon.com/Essential-Enneagram-Definitive-Personality-Self-Discovery-ebook/dp/B002VL1CNK

Enneagram, Relationships & Intimacy: https://www.amazon.com/Enneagram-Relationships-Intimacy-Understanding-Another-ebook/dp/B07GYM7H8L

 

 

Einige Kommentare zum Artikel von David Daniels

Von Jürgen Gündel

1. Geschichte der mündlichen Tradition

Als EnneagrammlehrerInnen der mündlichen Tradition versuchen wir wie andere in der Szene auch, sowohl das Enneagramm als auch seine mündliche Tradition historisch zurückzuverfolgen und zu begründen. Ich finde das sehr schwer gängig. Das psychologisch-spirituelle Konzept von neun Persönlichkeitstypen wird man nur im Ansatz auf bekannte und belegbare historische Vorläufer zurückführen können, auch wenn fragmentarische Ähnlichkeiten vorhanden sind (Wüstenväter, Ramon Llull, Kircher u.a.). Wirklich belegbar wird das erst ab Ichazo und Naranjo.

 

Ich finde daher Davids Aussage erfrischend, die mündliche Tradition sei von Helen Palmer und David Daniels als solche begründet und benannt worden. Sie begründen sozusagen eine Tradition, sie folgen keiner Tradition. Allenfalls einer Tradition der humanistischen Psychotherapie. Insofern können wir uns nicht nur den Versuch ersparen, die historischen Wurzeln des Enneagramms in früheren Jahrhunderten zu schildern, sondern auch aufzuzeigen, wie die mündliche Tradition vorher schon da war und nur weiter geführt wurde („früher wurden spirituelle Erkenntnisse mündlich von einem Lehrer auf einen Schüler übertragen ..“). Ich schlage daher als Sprechweise vor: „Das Enneagramm hat gewisse historische Vorläufer. In die Jetzt-Zeit wurde es von Oscar Ichazo und Claudio Naranjo eingeführt. Die mündliche Tradition wurde von Palmer/Daniels als solche begründet und weiterentwickelt.

2. Philosophie und Methoden

Grundlage dieser so gefassten mündlichen Tradition ist die Philosophie, dass Menschen sich selbst erkennen können, und dass es heilsam und im Sinne der Selbsterkenntnis weiterführend sein kann, das Erkannte in der mündlichen Begegnung mit anderen Menschen zu teilen. Sie respektiert also die Selbsterkenntnisfähigkeit des Menschen und den Wert des Austauschs mit anderen. Insofern die andere Person eine Lehrperson ist, geht sie von einem gleichberechtigten Austausch zweier ExpertInnen aus. Eine Expertin über sich selbst und eine Expertin über das Enneagramm. Sie demokratisiert damit den Vorgang der Weitergabe von Wissen und den Weg zur Selbsterkenntnis.

 

Daraus resultieren als Methoden:

a.) die Panelmethode

…bei der Sprecher desselben Typs über Ihre inneren Welten und ihre Funktionsweise in der äußeren Welt einem Publikum Auskunft geben. Damit wird einerseits die Selbsterkenntnis weiter gefördert und validiert, andererseits lernen alle anderen im Raum etwas aus der Innensicht dieses Typs. Die Lehrperson hat die Aufgabe, diesen Prozess erleichternd zu begleiten, nicht aber, den Interviewten und dem Publikum zu erklären, was dieser Typ sei.

b.) das Typisierungsinterview.

Auch hier geht es nicht darum, einem Lernenden seinen Typ zu bestimmen. Es geht nicht um Fremddiagnostik von außen nach innen, sondern der Lernende drückt angeregt durch die Fragen eines Interviewers aus, welche Selbsterkenntnisse er bereits über sich selbst hat. Er/sie beginnt, diese mit dem ordnenden Rahmen des Enneagramms in Bezug zu setzen. In dieser Weise findet man den eigenen Typ also von innen heraus selbst, statt ihn von außen (sei es durch eine charismatische Leitungsfigur, durch ein diagnostisches Interview oder durch einen der üblichen Tests) verkündet zu bekommen.

c.) (das noch weiter zu entwickelnde) Wachstumspanel.

Hier berichten die Typvertreter in Panels, welche Erfahrungen sie mit Wachstumsprozessen psychologischer oder spiritueller Art bereits gemacht haben und wo sie Wachstums- oder Entwicklungsbedarf haben. Angeregt durch Impulse der Leitung können dabei weitere Wachstumsschritte gemacht werden.